Bildung und Förderung

Expertenmeinung: Wie Unternehmen Fachkräftemangel bewältigen


Expertenmeinung: Wie Unternehmen Fachkräftemangel bewältigen

Der Fachkräftemangel betrifft Unternehmen quer durch alle Branchen und Größenordnungen in Deutschland. Insbesondere jedoch sind die Bereiche betroffen, in denen gut ausgebildete Fachkräfte spezialisiertes Wissen benötigen, wie zum Beispiel Ingenieurwesen, Gesundheitswesen oder die IT-Branche. Aber auch kleine und mittelständische Unternehmen (KMU), vornehmlich Familienunternehmen sowie Handwerksbetriebe, stehen oft vor einer schwierigen Lage bei der Suche nach geeigneten Fachkräften. Die aktuellen Prognosen deuten darauf hin, dass sich diese Problematik weiter akzentuiert – es wird also immer schwieriger werden, eine Belegschaft vollständig zu besetzen beziehungsweise qualitativ wachsen zu lassen.

Was helfen könnte: nachhaltige Qualifizierung. Aber wie sollen Unternehmen hier vorgehen? Wie sollen Firmen das stemmen? Joachim Giese, Vorstand der WBS GRUPPE, teilt in diesem Beitrag seine Lösungsansätze.

Wir können den Wandel mitgestalten.

Die Pandemie, eine sich verschiebende Weltordnung und dann ist da auch noch die Digitalisierung der Wirtschaft. Selten war eine Zeit so sehr vom Wandel geprägt wie die Gegenwart. Muss uns das verunsichern? Ich meine, nein, im Gegenteil. Die gegenwärtigen Herausforderungen sollten uns Ansporn sein, die Ärmel hochzukrempeln und den Wandel mitzugestalten.

Klar ist: Die digitale Transformation spielt in Bezug auf den Fachkräftemangel eine wichtige Rolle. Gerade in der IT-Branche ist das Thema Digitalisierung allgegenwärtig und hier besteht aufgrund des technischen Fortschritts permanent ein großer Bedarf an qualifizierten Mitarbeitenden. Aber auch in anderen Branchen ist die Digitalisierung von zentraler Bedeutung, beispielsweise im Bereich Produktion und Logistik.

Digitalisierung braucht frische Kenntnisse für neue Arbeitsfelder.

Durch die zunehmende Automatisierung und Digitalisierung fallen nicht nur traditionelle Jobs weg, es ergeben sich auch neue Arbeitsfelder, die bisher so nicht existierten. Dafür braucht es jedoch Mitarbeitende mit speziellen Kenntnissen, um diese Bereiche zu erschließen und erfolgreich zu gestalten. Daher sind Fachkräfte mit digitalen Fähigkeiten besonders gefragt.

Hinzu kommt, dass das Arbeiten immer stärker durch digitale Tools erleichtert wird – dies gilt nicht nur für abstrakte Bürojobs, sondern auch für handwerkliche Industrien sowie Pflegeberufe. Hierbei ändern sich auch die Anforderungen hinsichtlich Technologienutzung und -kompetenz fortlaufend. Noch ein Grund mehr, in kontinuierliche Weiterbildung zu investieren, wenn man den Anschluss nicht verlieren will. Infolgedessen sollten Unternehmen heute mehr denn je darauf achten, ihr Personal fit für den digitalen Wandel zu machen. Anderenfalls wird es noch schwieriger, dem steigenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken.

Beispiel Gastronomie: Wer Bildung ignoriert, verliert.

Die Gastronomie ist dafür ein gutes Beispiel. Ihr fehlen zuhauf Mitarbeitende. Und die, die da sind, wurden zu selten auf neue Herausforderungen vorbereitet. Das urteilt Robert Magiera. Der Bildungsexperte leitet bei der WBS GRUPPE die Firmenkundenberatung. Er vernetzt die Verheißungen beruflicher Weiterbildung mit den Nöten von kleineren und mittleren Unternehmen.

Das vermeintliche Ende der Pandemie sollte für Gastronom:innen den Neustart ermöglichen. Offenkundig ist der gelungen. Tatsächlich quetschen sich die Menschen nach dem Wegfall der Corona-Maßnahmen in die Lokale. Doch viele Unternehmen können den Zustrom kaum bändigen. Es fehlt Personal. Das ist den Unternehmen – größtenteils selbst verschuldet – abhandengekommen. Diejenigen, die blieben, sind heute überlastet.

Technologische Lösungen, die in Skandinavien Restaurants trotz Personalnot wettbewerbsfähig machen, scheitern in Deutschland. Warum? Weil den wenigen Fachkräften neben der nötigen Infrastruktur das Know-how fehlt. Anders als die Eventbranche, die in Weiterbildung investierte und über den Hebel Qualifizierung ihre Mitarbeitenden band, hat das Gastgewerbe diese Möglichkeit vergeudet. Jetzt gibt es die teure Quittung. Und das nicht ausschließlich für Gastronom:innen.

Inspiration Frankreich: Bildungsbudget in jedem Unternehmen.

In vielen Branchen haben Unternehmen den Wert von betrieblicher Bildung noch nicht erschlossen. Firmen haben die Phase der Kurzarbeit – ideal für eine Qualifizierung am Rande eines non-existenten Tagesgeschäft – unbedarft verschlafen. Das gilt mitunter auch für die Beschäftigten. Denn auch sie betrachten das Thema Qualifizierung zu skeptisch. Weit besser macht es Frankreich. Das Land zwingt Unternehmen zur Qualifizierung. Diese müssen Budgets für Bildung
hinterlegen und gegebenenfalls über Jahre zurückhalten.

Es liegt also im unternehmerischen Interesse, dass Beschäftigte die hinterlegten Möglichkeiten nutzen. Über eine App können Mitarbeitende zum Beispiel verfolgen, welchen finanziellen Rahmen sie für individuelle Weiterbildung momentan ansparen. Dass Bildung mit einer Summe konnotiert wird, steigert die Wertschätzung für das Instrument.

Vorbeugen mit QCG, dem Qualifizierungschancengesetz.

Die Bundesagentur für Arbeit denkt fortschrittlich in Europa. Wird Deutschland bei Themen wie der Digitalisierung von Nachbarn belächelt, erntet die Arbeitsmarktpolitik über Grenzen hinweg Bewunderung. Die Bundesagentur wird nicht erst im „Katastrophenfall“ aktiv, im eingetretenen Fall der Erwerbslosigkeit. Sie greift früher ein, will verhindern, dass Menschen überhaupt ihren Beruf verlieren. Prävention statt Reaktion.

Zum Start der selbst ernannten kollektiven „Weiterbildungsoffensive“ verabschiedete der Bundestag das Qualifizierungschancengesetz. Dieses ermöglicht Weiterbildung besonders dort, wo normalerweise die finanziellen Mittel für diese Investitionen fehlen. Zum Beispiel im Dienstleistungsbereich. Etwa 900 Millionen Euro sind für Unternehmen abrufbar. Bis zu 50 Prozent der Weiterbildungskosten erstattet die Bundesagentur für Arbeit. Doch die Unternehmen müssen auch wollen – und sich gut beraten lassen. Zum Beispiel von Alexander Regler. Der Experte für Arbeitsmarktpolitik beobachtet genau, wann und wohin sich die Bundesagentur für Arbeit mit ihren Benefits bewegt. Die Bundesagentur für Arbeit verfolgt einen klaren Plan. Sie will Weiterqualifizierung ganzheitlich fördern. Nicht auch, sondern besonders während eines laufenden Arbeitsverhältnisses.

Für die Strategie „von Arbeit in Arbeit“ gibt es plausible Argumente. Sie kann dafür sorgen, dass Unternehmen ihre eigene Zukunft – und die ihrer Mitarbeitenden – proaktiver gestalten. Jobs werden digitaler und komplexer. Weiterbildung ermöglicht Menschen das Mitwachsen. Zugleich werden Jobs wegfallen und andernorts – teilweise innerhalb derselben Firmen – Vakanzen entstehen. Geförderte Qualifizierung stärkt die Selbstheilungskräfte der Organisationen und ihre Autarkie.
Denn Weiterbildung formt Innovation – und die ist nötig für das Bestellen neuer Geschäftsfelder.

Unternehmen sollten die vorhandenen Fördermittel abrufen und sich beeilen. Großunternehmen arbeiten in der Beantragung effizienter. Das ist keineswegs verwerflich, sondern Ergebnis eines langfristigen Plans dieser Organisationen. Wenn kleinere und mittlere Firmen diesen noch nicht haben, müssen sie mit Partnern kooperieren, die die Beantragungsabläufe beherrschen.

Die Weiterbildungsdienstleister können – nachdem die Unternehmen ihren Qualifizierungsbedarf ermittelt haben – alles Weitere aufsetzen. Der bedachtsame Umgang mit Formalien ist auch bei diesem Thema relevant. Der Weg der proaktiven Weiterbildung und des „Fördernlassens“ ist äußerst ratsam. Die Bundesagentur für Arbeit priorisierte KMUs bei der Konzeption des Qualifizierungschancengesetzes mit Ab- und Weitsicht.

Portraitfoto von Joachim Giese, Vorstand WBS GRUPPE

Qualifizierung stärkt die Selbstheilungskräfte der Organisationen.

Joachim Giese

Vorstand WBS GRUPPE

Die beste Zeit für Weiterbildung ist … jetzt.

Unternehmen sollten die Frage, ob und inwiefern sie ihr Personal weiterqualifizieren nicht egalitär betrachten – aus sozialer Verantwortung und Eigennutz. Rinnt ihnen doch trotz Digitalisierung und Automation an anderen Stellen das Know-how durch die Finger. Der Nachwuchs wird angesichts der nächsten Renteneintrittsjahrgänge dieses Defizit kaum ausgleichen. Ohne Weiterbildungskonzepte wird die deutsche Wirtschaft ihren Vorsprung nach und nach einbüßen. Die Konkurrenz holt auf oder
enteilt mit asiatischen Siebenmeilenstiefeln. Unternehmen sind auch deshalb gut beraten, wenn sie in Qualifizierung investieren. Und nicht zuletzt ist es auch die Weiterbildung, die die Menschen an ein Unternehmen bindet. Aus Bildung bildet sich Motivation. Bildung bereitet die Lösungen von morgen vor.

Deshalb gilt für alle Unternehmen: Die beste Zeit für Weiterbildung ist jetzt!

Wie Weiterbildung Menschen bindet.

Während der Corona-Pandemie litten wenige Branchen so sehr wie der
Eventbereich. Im Jahr 2020 sank dessen Umsatz um 77 Prozent. Selbst Platzhirsche wie Ticketmaster verdienten kein Geld mehr. Die Mitarbeitenden waren in Kurzarbeit.
Das einzig Positive: Daran, dass es nach dem Ende der Pandemie aufwärts gehen würde, zweifelte niemand. Allein das Wann blieb offen. Und ob die Unternehmen dann personell handlungsfähig sein würden. Über Weiterbildungsangebote hielt Ticketmaster seine Mitarbeitenden im Unternehmen. Die Maßnahmen drückten Wertschätzung aus und vermittelten eine klare Perspektive. Mit der Qualifizierung bereitete das Management zudem den Aufbau kommender Geschäftsbereiche vor.
Ein Zeichen an Investoren, die bei der Überbrückung der Krise halfen. Im Sommer 2022 zieht das Geschäft gravierend an – und Ticketmaster ist mittendrin.

Wie Weiterbildung Unternehmen effizienter macht.

Ausstellende können beim Münchner Unternehmen Partyrent Pavillons, Sitzmöbel, sogar Untertassen für das Kaffeeservice mieten. Ein erquickliches Geschäft in einem Land, in dem Messen etwas hermachen. Eine ökonomische Tragödie, wenn keine einzige stattfindet. Partyrent nutzte die Zwangspause für ein breitflächiges Update der Mitarbeitenden. Diese wurden beispielsweise für ein neues Logistiksystem geschult, das in Stoßzeiten effizientere Abläufe garantiert. Nun, da der Markt anzieht, profitiert das Unternehmen von geschmierten Prozessen. Und kann auf motivierte wie spezialisierte Fachkräfte bauen.

Wie Weiterbildung analoge mit digitalen Welten vernetzt.

Digitale Calls ersetzen Dienstreisen. Wer vorher noch mit Skepsis online kaufte, tut es mittlerweile aus Überzeugung. Wer in den Urlaub will, reist spontaner. Ob in drei Monaten überhaupt Hotels offen haben – plötzlich ist das ungewiss. Die neuen Rahmenbedingungen bedrohen Reisebüros akut. Bereits vor Corona schröpften prosperierende, weil handlungsschnelle Online-Vergleichsportale das Geschäft. Eine große europäische Airline schulte Mitarbeitende aus einem Reisebüroverbund für einen wegweisenden Wechsel. Die Tourismuskauffrauen und -männer wurden während der Kurzarbeitsphasen zu digitalen Berater:innen weiterentwickelt. Im Online-Geschäft mangelt es schließlich an diesen ausgebildeten Fachkräften.

Wie Weiterbildung kurzfristig Lücken mit langfristiger Kompetenz füllt.

Anders verliefen die Krisen für den Automobilsektor. Sie kamen weniger ruckartig, dafür mit stärkeren Amplituden. Zum Beispiel durch Lieferkettenprobleme. In der Regel resultieren diese aus Sekundärfolgen anderer Unglücke. Das beste Beispiel ist das havarierte Containerschiff „Ever Given“ aus dem Suezkanal. Das Problem für die meisten Firmen: Wie eine Weiterbildungsmaßnahme planen, wenn schon morgen die lang erwarteten Teile eintreffen könnten? Automobilzulieferer Volke nutzte eine Kurzarbeitsphase für die flexibel getaktete Weiterbildung. Diese Schulung für Projektmanager:innen wurde innerhalb weniger Wochen aufgesetzt. So konnte das Unternehmen einen zeitlich undefinierbaren Leerlauf für den Aufbau relevanter Skills nutzen. Nebenbei vermittelte Volke neben Wertschätzung auch eine als stärker empfundene Jobsicherheit.

Joachim Giese ist Vorstand der WBS GRUPPE und LinkedIn-Voice. Als Sohn eines Kaufmanns aus dem Automobilgewerbe entschloss er sich gegen das schnelle Geld und für eine selbstbestimmte Karriere.

Bildung vernetzt Menschen. Sie gibt unserer Gesellschaft eine Chance.

Joachim Giese

Vorstand WBS GRUPPE

Fachkräftemangel. Mein Fazit.

Der Begriff ist omnipräsent – was manchmal die Tragweite eines Problems marginalisiert. Je häufiger Menschen einen Begriff hören, desto eher gewöhnen sie sich an ihn. Vielleicht ist Fachkräftemangel ohnehin die falsche Beschreibung für das tatsächliche Problem. Womöglich passt „Fachkräfteblindheit“ besser.

Ein aktuelles Beispiel: In einem nordrhein-westfälischen Unternehmen, das Lampen produziert, arbeitet ein Mann syrischer Herkunft im Lager. Der Mann war vor ein paar Jahren ins Land gekommen, fand schnell Arbeit. Kolleg:innen schätzen ihn. Er ist verlässlich, fleißig, hilfsbereit. Mit der deutschen Sprache kommt er nicht so gut zurecht, aber das geht auch Einheimischen so. Sein Arbeitgeber hat ein ganz anderes Problem. Es findet schlicht keine Spezialist:innen für die Produktentwicklung. In der Gegenwart kein akutes Drama, in der Zukunft schon. Zufällig offenbart sich, dass einer dieser verzweifelt gesuchten Köpfe längst im Unternehmen tätig ist. Der syrische Kollege aus dem Lager arbeitete in seiner Heimat als Physiker. Ein heller Kopf, der mit Verspätung in Deutschland leuchten darf. Und jetzt Lampen mitentwickelt.

Der Begriff Fachkräftemangel suggeriert, dass Talente generell fehlen. Dabei gibt es Millionen Menschen, die Berufe ergreifen könnten, dies aus unterschiedlichen Gründen aber noch nicht getan haben. Ich weiß es aus über 30 Jahren Erfahrung als Führungskraft: Potenziale schlummern in jedem Charakter. Bildung schärft die Konturen von Talent – und ist das effektivste Werkzeug für die Bergung dieser Ressourcen.

Die Früchte der Bildung reifen überall.